Diesen Befund erhebt die Selbsthilfeinitiative zu Zwängen, Phobien, Depressionen, Psychosomatischen Erkrankungen und Psychotischen Störungen. Deren Leiter stellt fest: „Nicht nur Betroffene, die bereits an seelischen Erkrankungen litten, sind durch die momentane Ausnahmesituation durch Krieg, Klimawandel, Inflation und Krisen oftmals vor eine Verschlechterung ihrer Symptome gestellt. Besonders die erstmalig von einer psychischen Diagnose heimgesuchten Patienten sind mit dieser Nachricht nicht selten überfordert und verzweifelt zugleich. Sie brauchen dringende Unterstützung – und werden in einigen Regionen nicht einmal mehr auf die Wartelisten bei den Therapeuten und psychotherapeutisch tätigen Ärzten aufgenommen. Uns erreichen Meldungen aus dem gesamten Bundesgebiet, wonach Patienten in akuten Krisen vertröstet werden – und letztlich den Weg in ein Krankenhaus suchen müssen, weil ihnen ambulant keinerlei fachärztliche oder psychotherapeutische Hilfe zuteilwird“, erklärt Dennis Riehle (Konstanz) hierzu.
„Weder das vor einiger Zeit neu geschaffene Angebot der Terminvermittlung bei den Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen, noch die sogenannte Psychotherapeutische Sprechstunde haben eine wesentliche Entlastung gebracht. Denn letztlich erhalten viele Betroffene im Rahmen dieses einstündigen Formats zwar eine erste Einschätzung über Schweregrad ihrer Beschwerden und die Dringlichkeit einer therapeutischen Intervention. All das nutzt aber nichts, wenn aus der Inanspruchnahme der Sprechstunde keine Psychotherapie folgt, weil es an Plätzen hierfür mangelt. Und auch die Reform der Bedarfsplanung aus 2019 ist verpufft. Einerseits haben die Krankenkassen damals die empfohlene Anzahl an neu einzurichtenden Arzt- und Therapieplätzen enorm gedrückt. Andererseits sind die mittlerweile einbezogenen Faktoren nicht abschließend. Dass die Wartezeiten auf einen Therapieplatz nicht mit dem Grundsatz vereinbar sind, den die Politik beispielsweise in der Pflege verfolgt (ambulant vor stationär), macht die Tatsache deutlich, dass Patienten mittlerweile schneller einen Behandlungsplatz im psychiatrischen Krankenhaus erhalten als einen Termin bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten. Daher sind wir überzeugt, dass den monatelangen Wartezeiten auf einen Psychotherapie-Platz umgehend entgegengewirkt werden muss und deshalb die folgenden Änderungen an der Bedarfsplanungs-Richtlinie nötig sind“, erläutert der Sozialberater vom Bodensee seinen Standpunkt und kann dabei aus eigener Betroffenheit und Erfahrung sprechen.
„Obwohl zwar mittlerweile Einwohnerzahlen, Geschlecht und Krankheitszustand der regionalen Bevölkerung (Morbidität) berücksichtigt werden und eine zweijährige Aktualisierung erfolgt, sind noch immer zahlreiche Punkte ausgeblendet worden: Nachdem Studien ergeben haben, dass sich die Zahlen über das Vorkommen psychischer Erkrankungen zwischen städtischem Ballungsgebiet und ländlichem Raum kaum unterscheiden, ist darüber zu diskutieren, ob es den Regionentypus weiterhin bedarf oder eine einheitliche Verhältniszahl (Psychotherapeuten pro Einwohner) dem tatsächlichen Bedarf nicht näherkommt. Immerhin werden teilweise noch immer 35 Therapeuten für 100.000 Bewohner in der Großstadt berechnet, während auf dem Land nur etwa 19 Psychotherapeuten auf dieselbe Einwohnerzahl vorgesehen sind. Am sinnvollsten erscheint eine bundesweit einheitliche Verhältniszahl, die nicht mehr zwischen Stadt und Land unterscheidet. Damit wäre auch dem Vorgehen die Grundlage entzogen, wonach in der Bedarfsplanung noch immer davon ausgegangen wird, dass Psychotherapeuten in der City die umliegende Peripherie mitversorgen würden. Zwingend in die Bedarfsplanung einbezogen werden müssen auch die wirtschaftliche Stärke einer Region und die damit verbundene Sozialstruktur der Bevölkerung. Denn gerade eine Veränderung der ökonomischen Lage ist ein wichtiger vorausschauender Indikator dafür, wie sich die Verbreitung psychischer Erkrankungen in einem Gebiet entwickeln wird. Immerhin ist seit langem bekannt, welch enge Verzahnung beispielsweise zwischen Arbeitslosenquote und Zahl der seelisch Erkrankten besteht. Mit einer Abbildung der gesamtgesellschaftlichen Situation in einem Areal würde man sich in der sachgerechten und realitätsnahen Bedarfsplanung ehrlicher tun“, sagt Dennis Riehle.
„In der Bedarfsplanung darf man sich zudem nicht länger allein auf den Ist-Zustand verlassen. Ein prävalenzbasierter Ansatz ist vonnöten, der eine Vorausrechnung des Bedarfs ermöglicht. Schließlich konnte man auch in der Vergangenheit bereits absehen, dass die Nachfrage an Psychotherapie über die kommenden Jahre steigen würde. Dennoch hat man gerade aufgrund der unzureichenden Einbeziehung von Prognosen in die Bedarfsplanung eine adäquate Versorgung verschlafen, was uns nicht erst seit Corona auf die Füße fällt. Darüber hinaus muss das Mogeln um die tatsächlich vorhandenen Psychotherapie-Plätze beendet werden. Immer häufiger sind Ärzte und Psychotherapeuten nicht mehr voll berufstätig, weil sich viele der Teile der wachsenden Zahl älterer Mediziner und Therapeuten aus dem Arbeitsleben schleicht, also schrittweise Stunden reduziert. Diesem Umstand wird in der Bedarfsplanung unzureichend Rechnung getragen. Daneben ist es unredlich, dass weitgehend unbeachtet bleibt, wonach psychotherapeutisch tätige Fachärzte natürlich nicht nur Psychotherapie anbieten. Oftmals ist sie ein Nebengeschäft, während die medizinische Sprechstunde im Vordergrund steht. Nicht jeder augenscheinliche Psychotherapie-Sitz kann daher auch als 100-prozentiges Psychotherapie-Angebot berechnet werden“, so der Coach. „Zur raschen Entschärfung der Versorgungslücken sollte die Einbeziehung der privat tätigen Psychotherapeuten in die Versorgung erfolgen. Die Gesetzlichen Krankenkassen müssten entsprechend verpflichtet werden, die Kosten für die Inanspruchnahme dortiger Psychotherapie ohne längere Prüfungsverfahren zu erstatten (vgl. § 13 Abs. 3 SGB V)“, formuliert Dennis Riehle seine Forderungen.
„Langfristig ist eine sektorenübergreifende Versorgung anzustreben. Damit ist vor allem gemeint, dass die Vernetzung der unterschiedlichen Anbieter therapeutischer und beratender Maßnahmen verbessert wird und Psychotherapeuten wie Krankenkassen somit über die Standesgrenzen hinwegdenken müssten. Entsprechend könnte erreicht werden, dass Menschen in akuten psychiatrischen Krisen schnellere Hilfe bei einem therapeutisch tätigen Facharzt oder einem Psychotherapeuten erhielten, weil Betroffene mit weniger dringlichen Problemen übergangsweise an ein anderes Angebot (beispielsweise Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Hausärzte) verwiesen werden könnten. Gleichsam ist auch an eine Verbesserung der überregionalen Zusammenarbeit der im psychischen Versorgungswesen Tätigen zu denken, ebenso wie an die unbedingte Einbeziehung von Psychotherapeuten in die geplanten Gesundheitszentren auf dem Land“. Und abschließend ist dem Psychologischen Berater noch ein weiteres Anliegen besonders wichtig: „Es ist zwingend geboten, dass sich Psychotherapeuten und psychotherapeutisch tätige Ärzte für die Behandlung von Psychose-Erkrankten öffnen. Es muss bereits in der Ausbildung auf den therapeutischen Nutzen auch bei wahnhaft Erkrankten aufmerksam gemacht, die Angst vor deren Behandlung genommen und der Einsatz von Psychotherapie bei Psychosen im Studium trainiert werden“.
Die Psychologische und Sozialberatung der Selbsthilfeinitiative ist kostenlos unter www.selbsthilfe-riehle.de erreichbar.
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